Der Gesprächsdieb
- Jens Alsleben Stark im Sturm
- vor 1 Tag
- 2 Min. Lesezeit

Anna saß in der Kaffeeküche des Büros und nahm sich gerade einen Moment, um durchzuatmen. Gustav, ihr kleiner Säbelzahntiger, hockte auf dem Tisch und musterte sie aufmerksam.
„Du siehst aus, als hättest du gerade einen Marathon hinter dir“, bemerkte er und schnupperte an ihrem Kaffeebecher.
Anna seufzte. „Ich hatte gerade ein Meeting mit Tom. Ich wollte eine Idee vorstellen, aber jedes Mal, wenn ich anfing zu sprechen, unterbrach er mich und redete über sich selbst. Es war, als ob ich gar nicht existiere.“
Gustav nickte wissend. „Ah, du hast es mit einem Balldieb zu tun.“
„Balldieb?“ Anna runzelte die Stirn.
„Ja“, erklärte Gustav und begann auf dem Tisch auf und ab zu laufen. „Stell dir ein Gespräch wie ein Spiel mit einem Ball vor. Du fängst an zu reden – das ist, als würdest du den Ball halten. Aber noch bevor du deinen Satz beenden kannst, kommt Tom, reißt dir den Ball aus der Hand und rennt damit los, ohne sich umzusehen.“
Anna lehnte sich zurück. „Genau so fühlt es sich an! Ich fange einen Satz an, und ehe ich mich versehe, erzählt er von sich selbst. Oder er wechselt das Thema komplett. Oder er beendet meine Sätze für mich – und zwar immer falsch.“
Gustav schnurrte nachdenklich. „Das Problem mit Balldieben ist, dass sie oft nicht einmal merken, dass sie es tun. Sie sind so darauf fixiert, sich selbst ins Gespräch zu bringen, dass sie gar nicht wahrnehmen, wie sie andere unterbrechen.“
„Aber wie stoppt man das?“ fragte Anna frustriert.
„Tja, du hast ein paar Möglichkeiten“, begann Gustav. „Die sanfte Methode wäre, Tom direkt darauf hinzuweisen: ‚Lass mich bitte meinen Gedanken zu Ende bringen.‘ Oder du kannst es mit Humor versuchen: ‚Moment, ich habe meinen Ball noch nicht fertig gepasst!‘“
Anna lachte. „Ich sehe sein Gesicht jetzt schon vor mir.“
„Wenn er es immer noch nicht merkt, wird’s Zeit für eine drastischere Maßnahme“, sagte Gustav geheimnisvoll.
„Und die wäre?“
„Eine Aufnahme.“
Anna hob eine Augenbraue. „Eine Aufnahme?“
„Ja“, erklärte Gustav. „Nimm ein Gespräch mit ihm auf – mit seiner Erlaubnis natürlich – und spiel es ihm später vor. Die meisten Balldiebe sind entsetzt, wenn sie hören, wie oft sie andere unterbrechen oder Gespräche übernehmen. Manchmal braucht es einen Spiegel, damit jemand erkennt, was er tut.“
Anna nippte an ihrem Kaffee und dachte nach. „Du meinst, wenn er selbst hört, was er tut, merkt er es vielleicht zum ersten Mal?“
Gustav grinste. „Genau. Und sobald er es weiß, kannst du ihn daran erinnern, wenn er wieder in sein altes Muster verfällt. Ein einfaches ‚Tom, lass mich mal ausreden‘ könnte dann schon reichen.“
Anna schüttelte den Kopf und lachte. „Du solltest Kommunikationscoach werden, Gustav.“
Der kleine Säbelzahntiger streckte sich genüsslich. „Ach, ich mache das nur, weil ich den Ball behalten will.“
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