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AutorenbildJens Alsleben Stark im Sturm

Die Tücken der Erinnerung

Gustav stand auf einem grünen Hügel und schaute auf das weite Tal hinab. Die Sonne ging gerade unter, als Anna neben ihm auftauchte, ein nachdenklicher Ausdruck auf ihrem Gesicht.


„Weißt du noch, wie wir hier letztes Jahr waren?“, fragte Anna und setzte sich ins Gras. „Es war doch genauso schön wie heute.“


Gustav schnurrte leise und legte seinen Schwanz um seine Pfoten. „Sicher, dass du dich genau erinnerst? Erinnerungen können täuschen, weißt du.“


Anna runzelte die Stirn. „Was meinst du damit?“


„Erinnerungen sind wie Puzzleteile,“ erklärte Gustav ruhig. „Wir denken, wir erinnern uns an alles ganz genau, aber in Wirklichkeit fehlen uns viele Teile. Unser Gehirn füllt die Lücken einfach mit Dingen, die wir für wahr halten. Und je öfter wir uns an etwas erinnern, desto mehr ergänzen wir – und manchmal erfinden wir sogar Details.“


Anna lachte ungläubig. „Also sagst du, dass ich mich falsch erinnere?“


Gustav schnurrte noch einmal. „Nicht unbedingt falsch, aber vielleicht unvollständig. Hast du dich jemals an ein Zitat oder einen Moment erinnert und später festgestellt, dass es ganz anders war, als du dachtest? Das passiert öfter, als wir glauben.“


Anna lehnte sich zurück und dachte nach. „Jetzt, wo du es sagst, habe ich tatsächlich schon mal gemerkt, dass ich Dinge anders in Erinnerung hatte. Aber warum machen wir das?“


„Es ist einfach die Art, wie unser Gehirn arbeitet,“ erklärte Gustav. „Wir nehmen nur einen Bruchteil dessen wahr, was passiert. Wenn wir dann zurückblicken, rekonstruieren wir den Rest. Und mit jeder weiteren Erinnerung wird die Geschichte runder – aber nicht unbedingt wahrer.“


Anna nickte langsam. „Also, je sicherer ich mir über eine Erinnerung bin, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie in Teilen falsch ist?“


„Genau,“ schnurrte Gustav zufrieden. „Das ist der Trick. Unsere Sicherheit kommt oft daher, dass wir die Geschichte immer wieder erzählt haben. Doch mit jeder Erzählung verändern wir sie ein wenig.“


„Das ist irgendwie beunruhigend,“ gab Anna zu. „Wie können wir dann jemals sicher sein, dass wir uns richtig erinnern?“


Gustav sah sie weise an. „Manchmal ist es hilfreich, nach objektiven Beweisen zu suchen – wie alte Fotos oder Aufzeichnungen. Aber vor allem sollten wir uns bewusst sein, dass unsere Erinnerungen nicht immer perfekt sind. Ein wenig Bescheidenheit in Bezug auf unsere Gewissheit schadet nie.“


„Also, was wir hier letztes Jahr erlebt haben, war vielleicht ganz anders, als ich dachte?“


Gustav lächelte. „Möglich. Aber es ist nicht so wichtig, wie genau du dich erinnerst. Wichtig ist, was die Erinnerung für dich bedeutet.“


Anna schaute auf die untergehende Sonne und lächelte. „Vielleicht hast du recht. Manchmal ist die Bedeutung wichtiger als die genauen Details.“


„Genau,“ schnurrte Gustav zufrieden. „Und das ist eine Erinnerung, die du behalten solltest.“


 

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