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Der weiße Gürtel der Neugier

Autorenbild: Jens Alsleben Stark im SturmJens Alsleben Stark im Sturm

Aktualisiert: 13. Nov. 2024

Es war ein ruhiger Abend im Büro, und Anna saß still an ihrem Schreibtisch, vertieft in ihre Gedanken. Sie hatte in ihrer Karriere viel erreicht, mehr als sie sich jemals erträumt hätte. Doch heute dachte sie über etwas anderes nach – nicht über Erfolge oder neue Projekte, sondern über die Frage, was wahre Meisterschaft wirklich bedeutete.



Gustav, der kleine Säbelzahntiger, sprang auf ihren Schoß und blickte sie neugierig an. „Was beschäftigt dich heute so sehr?“ fragte er.



Anna lächelte. „Ich habe über Jigoro Kano nachgedacht. Weißt du, der Gründer von Judo? Als er wusste, dass er bald sterben würde, bat er darum, in seinem weißen Gürtel begraben zu werden – dem Symbol eines Anfängers.“



Gustav schnurrte nachdenklich. „Ein Meister, der am Ende seines Lebens das Symbol eines Anfängers trägt... Das ist eine starke Botschaft.“



Anna nickte. „Es erinnert mich daran, dass wahre Meisterschaft nicht darin liegt, stolz auf das Erreichte zu sein. Es geht darum, immer wieder neu zu lernen, mit der Neugier eines Kindes – als wäre man ein Anfänger.“



„Das ist es“, sagte Gustav und setzte sich bequemer hin. „Die meisten glauben, Meister zu sein bedeutet, alles zu wissen. Aber die wahren Meister sind diejenigen, die zugeben, dass sie noch so viel zu lernen haben.“



Anna dachte an die vielen Jahre, in denen sie nach Perfektion gestrebt hatte, immer darauf bedacht, Fehler zu vermeiden und das Wissen, das sie erlangt hatte, zu verteidigen. Doch in letzter Zeit hatte sie erkannt, dass die größten Fortschritte nicht aus dem Vertrauen in das Bekannte kamen, sondern aus der Bereitschaft, alles zu hinterfragen. „Maslow sprach von einer zweiten Naivität“, sagte sie. „Menschen, die ihr volles Potenzial ausschöpfen, kehren zu einer Art kindlicher Neugier zurück.“



Gustav schnurrte zustimmend. „Es braucht Mut, wieder ein Anfänger zu sein, besonders nach all den Erfolgen. Es erfordert, sich von der Angst vor äußeren Urteilen zu befreien und sich darauf zu konzentrieren, wirklich zu verstehen.“



„Und das ist die Herausforderung“, sagte Anna leise. „Es ist leicht, sich auf das zu stützen, was man schon weiß, und sich in der eigenen Expertise sicher zu fühlen. Aber wahres Wachstum kommt nur, wenn man bereit ist, die Dinge aus der Perspektive eines Anfängers zu betrachten – ohne Stolz, ohne Angst, als unwissend dazustehen.“



Gustav grinste. „Genau. Die wirklich Großen stellen die naiven Fragen, die sich andere nicht mehr trauen zu stellen. Sie erkennen, dass wahre Meisterschaft bedeutet, demütig zu sein und zu lernen, als wüssten sie nichts.“



Anna schaute aus dem Fenster und fühlte sich plötzlich leicht. „Vielleicht sollte ich öfter meinen eigenen weißen Gürtel tragen – nicht nur, um mich daran zu erinnern, dass ich noch viel zu lernen habe, sondern auch, um anderen zu zeigen, dass es in Ordnung ist, ein Anfänger zu sein.“



„Das ist wahre Stärke“, sagte Gustav. „Nicht die, die sich auf das stützt, was du bereits erreicht hast, sondern die, die bereit ist, alles in Frage zu stellen.“



Anna lehnte sich zurück und atmete tief durch. „Ja, der weiße Gürtel. Es ist an der Zeit, ihn wieder anzulegen – im Geiste der Neugier und des Wachstums.“


 
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