Der Raum dazwischen
- Jens Alsleben Stark im Sturm
- 12. Feb.
- 2 Min. Lesezeit

Anna saß an ihrem Schreibtisch, der Blick auf die langen Listen von Aufgaben und Meetings für die kommende Woche gerichtet. Die Tage verschwammen ineinander – Arbeit, Verpflichtungen, Entscheidungen. Es fühlte sich an, als gäbe es keinen Moment mehr, um einfach nur zu sein.
Gustav, ihr geschrumpfter Säbelzahntiger, sprang auf den Tisch und legte seinen Kopf schief. „Du siehst aus, als wärst du in einer Zeitschleife gefangen.“
Anna seufzte. „Manchmal fühlt es sich auch genau so an. Arbeit, Zuhause, Schlafen, Wiederholen. Es gibt keine Lücke mehr zwischen diesen Welten.“
Gustav schnurrte nachdenklich. „Du hast keinen dritten Ort.“
Anna runzelte die Stirn. „Dritten Ort?“
„Ja. Der Soziologe Ray Oldenburg beschrieb das als einen Ort zwischen Arbeit und Zuhause – einen Raum, in dem du dich einfach aufhalten kannst, ohne Erwartungen, ohne Verantwortung,“ erklärte Gustav. „Es kann eine Laufgruppe sein, ein Stammtisch, eine Töpferklasse oder ein Buchclub. Ein Ort, an dem du nicht Managerin, nicht Mutter, nicht Problemlöserin bist – sondern einfach nur du.“
Anna lehnte sich zurück. „Aber wozu? Ich habe doch genug zu tun.“
Gustav schüttelte den Kopf. „Das ist genau das Problem. Wenn du immer nur zwischen Job und Verpflichtungen hin und her springst, bleibt kein Raum für frische Perspektiven. Ohne diese Distanz bleibst du in reaktivem Denken gefangen. Und das ist tödlich für eine gute Führungskraft.“
Anna dachte darüber nach. „Also brauchen auch Führungskräfte einen Ort, an dem sie nicht führen müssen?“
„Exakt!“ rief Gustav. „Die besten Anführer haben einen dritten Ort, weil sie wissen, dass echte Klarheit und strategische Einsicht oft dann kommen, wenn sie mal nicht an Probleme denken.“
Anna ließ den Gedanken auf sich wirken. Sie erinnerte sich an die Yogastunden, die sie früher am Samstagmorgen besucht hatte – bevor ihre Wochenenden von Terminen und Aufgaben überlagert wurden. Oder an das kleine Café in der Stadt, wo sie früher sonntagmorgens saß und einfach nur las.
„Ich hatte mal solche Orte,“ sagte sie leise.
„Dann ist es Zeit, sie zurückzuerobern,“ sagte Gustav bestimmt. „Wo kannst du hingehen, wo keine To-do-Liste auf dich wartet? Wo du einfach nur sein kannst?“
Anna lächelte schwach. „Vielleicht sollte ich wieder mit dem Yoga anfangen. Oder einen festen Spaziergang ohne Handy in meinen Tag einbauen.“
„Perfekt,“ schnurrte Gustav. „Denke daran: Dein dritter Ort ist nicht nur ein physischer Ort. Es ist ein Zustand, in dem du den Druck loslässt und deine Gedanken neu sortieren kannst.“
Anna schloss ihren Laptop. „Du hast recht. Ich brauche diesen Raum – nicht nur für mich, sondern auch, um bessere Entscheidungen zu treffen.“
Gustav zwinkerte. „Dann lass es keine Option sein. Die besten Führungskräfte machen ihren dritten Ort zu einem nicht verhandelbaren Teil ihres Lebens.“
Anna nickte entschlossen. „Dann fange ich heute damit an.“
Und mit einem Mal fühlte sich die kommende Woche ein wenig leichter an.
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