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Der Mut zur Wahrheit

Anna saß am Konferenztisch, umgeben von ihren Teammitgliedern, die aufmerksam auf ihren Bildschirm starrten. Die Präsentation lief, die Zahlen waren eindeutig: Das Projekt war gescheitert. Budget überschritten, Zielvorgaben verfehlt, und die geplanten Synergien hatten sich als Illusion entpuppt.


„Also, wie wollen wir das kommunizieren?“ fragte einer der Teamleiter zögernd. „Wir könnten die positiven Aspekte hervorheben und das Negative ein bisschen... entschärfen.“


Ein nervöses Murmeln ging durch den Raum. Niemand wollte die unangenehme Wahrheit aussprechen.


Plötzlich ertönte ein wohlbekanntes Räuspern. Gustav saß auf der Fensterbank, die grünen Augen schmal und durchdringend. „Ich liebe den Geruch von falscher Harmonie am Morgen.“


Anna schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Sie wusste, worauf Gustav hinauswollte. „Sag es einfach, Gustav.“


Der kleine Säbelzahntiger sprang elegant vom Fensterbrett und stolzierte zum Tisch. „Ihr redet euch gerade um die Wahrheit herum wie Katzen um heißen Brei.“


„Wir wollen niemanden verärgern“, warf ein Teammitglied ein. „Es gibt schon genug Druck von oben.“


Gustav setzte sich und wickelte seinen Schwanz ordentlich um die Pfoten. „Verstehe. Aber was ist mit Intellektueller Integrität?“


Anna horchte auf. „Intellektuelle Integrität?“


„Ja“, schnurrte Gustav. „Das bedeutet, die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie unbequem ist. Es bedeutet, zu seinen Überzeugungen zu stehen, aber auch zu akzeptieren, dass man falsch liegen könnte.“


Ein Raunen ging durch den Raum. Anna nickte langsam. „Also nicht nur ehrlich sein, sondern auch offen für andere Perspektiven?“


„Genau“, sagte Gustav. „Es geht darum, seine Sichtweise klar und selbstbewusst zu vertreten, aber auch bereit zu sein, sie zu hinterfragen. Nicht, um zu gewinnen, sondern um der Wahrheit willen.“


Ein leises Kichern erklang. „Das klingt fast philosophisch.“


Gustav grinste. „Führung ist Philosophie – in Aktion. Und wenn du die Wahrheit verdrehst, weil sie unbequem ist, beraubst du dein Team der Chance, aus Fehlern zu lernen.“


Anna schaute auf die Tabelle mit den Zahlen und dann in die Gesichter ihres Teams. „Was ist mit den Konsequenzen? Was, wenn das Führungsteam uns zur Rechenschaft zieht?“


„Dann beweist du Rückgrat“, sagte Gustav schlicht. „Die Wahrheit zu sagen und Verantwortung zu übernehmen zeigt Stärke, nicht Schwäche.“


Anna lehnte sich zurück und überlegte. Sie erinnerte sich an andere Gelegenheiten, bei denen sie die Wahrheit abgeschwächt hatte, um Konflikte zu vermeiden. Doch das führte nie zu echten Lösungen – nur zu weiteren Problemen.


„Und was, wenn wir uns irren?“, fragte sie schließlich. „Was, wenn wir eine falsche Schlussfolgerung gezogen haben?“


„Dann sag das auch“, schnurrte Gustav. „Intellektuelle Integrität bedeutet, zuzugeben, dass man nicht alles weiß. Es bedeutet, Unsicherheit zuzulassen, aber gleichzeitig den Mut zu haben, eine fundierte Meinung zu äußern.“


Anna sah ihr Team an, das schweigend zuhörte. „Also zeigen wir keine Schwäche, wenn wir Unsicherheit eingestehen?“


„Nein“, sagte Gustav. „Ihr zeigt Stärke, weil ihr die Wahrheit sucht – nicht euren Stolz schützt.“


Anna atmete tief durch. „Okay. Dann werde ich das Projekt offen und ehrlich darstellen – die Misserfolge und die Erkenntnisse. Und ich werde klarstellen, dass wir daraus lernen und es besser machen werden.“


Gustav lächelte zufrieden. „Das ist Intellektuelle Integrität in Reinkultur.“


Anna lächelte zurück. „Danke, Gustav. Du bist wirklich ein ungewöhnlich weiser...“


„Säbelzahntiger“, ergänzte Gustav mit einem selbstgefälligen Schnurren. „Und vergiss nicht: Die Wahrheit mag unangenehm sein, aber sie ist immer stärker als die bequemste Lüge.“


Anna nickte und sah zu, wie Gustav zur Tür trottete. „Wo gehst du hin?“


„Ich muss noch ein paar Wahrheiten finden“, rief er über die Schulter. „Vielleicht in der Kantine... sie haben heute Thunfisch.“


Ein Lachen ging durch den Raum, und die Anspannung löste sich. Anna wusste, dass der Weg der Wahrheit nie der einfachste war – aber es war der Weg der Integrität. Und den würde sie gehen.


Selbst wenn ein kleiner, frecher Säbelzahntiger sie daran erinnern musste.



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