Der Anker im Kopf
- Jens Alsleben Stark im Sturm
- 29. März
- 7 Min. Lesezeit

Schön, dass du wieder mit dabei bist!
Alle vier Wochen erwartet dich hier eine neue Geschichte aus dem Leben von Anna und ihrem kleinen Säbelzahntiger Gustav – inspiriert von den letzten beiden Folgen unseres Podcasts Der Säbelzahntiger. Dieses Mal geht es um ein Thema, das uns allen vertraut ist.
Falls du den Podcast noch nicht gehört hast (wird Zeit!), hier findest du ihn auf Spotify: open.spotify.com/show/1WBHeOFJ37VS7OudYDYnxj
Natürlich auch verfügbar auf Apple Music, Amazon Music und allen gängigen Plattformen.
Wie gewohnt findest du im Anschluss an die Geschichte eine kompakte Zusammenfassung der wissenschaftlichen Hintergründe zu beiden Folgen – fundiert und verständlich aufbereitet.
Und jetzt viel Freude mit der neuen Ausgabe von Im Dialog mit Gustav! 🎙🐯
Der Anker im Kopf
„Also, ich weiß nicht, Gustav“, sagte Anna und starrte gedankenverloren auf ihr Laptop. „Ich hab diese Präsentation jetzt zum vierten Mal überarbeitet. Und ich merke, dass ich immer wieder zur alten Version zurückkehre. Irgendwas hält mich fest.“
Gustav, der kleine Säbelzahntiger mit den grünen Augen, sprang vom Bücherregal auf den Schreibtisch. „Mhhh... klingt nach einem klassischen Fall von Status-quo-Bias“, schnurrte er und tippte mit seiner Pfote auf den Bildschirm. „Du hängst an der alten Version, obwohl du weißt, dass du neue Ideen einbauen solltest.“
Anna seufzte. „Aber es fühlt sich sicherer an. Die alte Version hat in der Vergangenheit funktioniert.“
„Klar“, nickte Gustav. „Unser Gehirn ist clever – aber auch ein bisschen bequem. Wenn du etwas einmal gewählt hast, steigt sein gefühlter Wert. Selbst wenn es bessere Alternativen gibt, bleibst du oft beim Alten – weil du es bereits besitzt oder kontrollierst. Das nennt man Endowment-Effekt und illusion of control.“
„Und das ist irrational?“, fragte Anna.
„Nicht nur irrational – es ist unbewusst“, erwiderte Gustav. „In Studien haben Menschen sogar dann die Status-quo-Wahl bevorzugt, wenn sie keinen echten Vorteil davon hatten. Selbst wenn die Alternativen objektiv besser waren.“
Anna lehnte sich zurück. „Aber warum ist das so schwer zu durchbrechen? Ich meine, ich weiß doch, dass es bessere Optionen gibt.“
Gustav schwang seinen Schwanz in einem eleganten Halbkreis. „Weil Entscheidungen nicht nur kognitive, sondern auch emotionale Prozesse sind. Die Appraisal-Theorie zeigt: Wenn du eine Situation bewertest, bewertest du gleichzeitig, wie relevant, kontrollierbar oder bedrohlich sie ist. Und diese Einschätzung löst Emotionen aus – wie Angst, Unsicherheit oder Stolz.“
„Also hält mich meine Angst zurück?“, fragte Anna leise.
„Vielleicht. Oder dein Bedürfnis, die Kontrolle zu behalten“, murmelte Gustav. „Wenn du das Alte wählst, bleibt dein Selbstbild stabil. Und du fühlst dich kompetenter – selbst wenn es dich inhaltlich zurückhält.“
Anna schüttelte den Kopf. „Und was kann ich tun? Einfach mutiger sein?“
„Nicht mutiger – neugieriger“, schnurrte Gustav. „Stell dir vor, Entscheidungen wären keine Probleme, sondern Rätsel. Geheimnisse, die du mit etwas Detektivarbeit entschlüsseln kannst. Dann bist du nicht mehr gezwungen, schnell zu handeln, sondern darfst erstmal sammeln, vergleichen, verstehen. So schaffst du emotionale Distanz und bleibst im kognitiven Fahrersitz.“
Anna lachte. „Also Sherlock Holmes statt Feuerwehrfrau.“
„Genau! Und was wäre, wenn du jemanden in deinem Team hättest, der ständig in den Status-quo zurückfällt?“
Anna überlegte. „Ich würde wahrscheinlich denken, die Person sei stur. Aber wenn ich ehrlich bin... vielleicht hat sie einfach Angst, bewertet zu werden. Oder sie spürt, dass ihre Meinung nicht zählt. Und dann drückt sie das in inhaltlichen Diskussionen aus – obwohl es eigentlich um Beziehung und Anerkennung geht.“
Gustav grinste. „Du hast es verstanden. Menschen streiten oft über Inhalte, wenn sie sich im Miteinander übergangen fühlen. Und sie klammern sich an Altes, wenn sie keine sichere Beziehung zum Neuen haben.“
Anna tippte sich an die Stirn. „Das heißt... ich kann den Status-quo-Bias nur auflösen, wenn ich sowohl die kognitiven als auch die emotionalen Ebenen anspreche.“
„Bingo“, sagte Gustav. „Oder wie du Menschen in Bewegung bringst? Indem du nicht fragst: Warum hast du dich noch nicht bewegt?, sondern: Was brauchst du, damit du dich sicher fühlst, dich zu bewegen?“
Anna schaute auf ihre überarbeitete Präsentation. Dann klickte sie auf „Speichern unter“ und schrieb in den Titel: Version Zukunft.
„Danke, Gustav“, sagte sie.
„Gern geschehen“, schnurrte der kleine Tiger. „Wenn du das nächste Mal am Alten hängst – frag dich: Ist es wirklich besser? Oder nur bequemer?“
Appraisal Theory of Emotion
1. Einführung
Die Appraisal-Theorie der Emotion gehört zu den kognitiv orientierten Emotionstheorien. Ihr zentrales Argument ist, dass Emotionen nicht direkt durch äußere Reize, sondern durch deren subjektive Bewertung („appraisal“) entstehen. Diese Bewertungen erfolgen entlang bestimmter Dimensionen, die die emotionale Reaktion differenzieren
2. Zentrale Grundannahmen
2.1 Appraisal als Auslöser emotionaler Episoden
Emotionen entstehen, wenn eine Person ein Ereignis in Bezug auf ihre Ziele, Werte und Erwartungen bewertet. Diese Bewertung ist abhängig von individuellen Faktoren wie Temperament, Kultur, Motivation oder bisherigen Erfahrungen.
2.2 Komponenten emotionaler Episoden
Emotionen bestehen aus mehreren synchronisierten Komponenten:
Kognitive Bewertung
Subjektives Erleben (Gefühle)
Motivationale Tendenzen (z. B. Flucht)
Physiologische Veränderungen
Ausdrucksverhalten (z. B. Mimik)
Diese sogenannte komponentielle Sichtweise unterscheidet sich von klassischen Basisemotionstheorien, die Emotionen als diskrete, angeborene Programme begreifen.
3. Bewertungsdimensionen (Appraisal Factors)
Häufig untersuchte Dimensionen:
Neuheit: Ist das Ereignis neu oder vertraut?
Valenz: Ist es positiv oder negativ?
Zielrelevanz: Betrifft es wichtige persönliche Ziele?
Zielkongruenz: Unterstützt oder behindert es diese Ziele?
Kontrollierbarkeit: Lässt sich die Situation beeinflussen?
Kausalität/Agency: Wer oder was ist verantwortlich?
Je nach Kombination dieser Dimensionen entsteht eine spezifische Emotion. Zum Beispiel kann ein zielinkongruentes und unkontrollierbares Ereignis Angst hervorrufen, während Zielinkongruenz bei gleichzeitig hoher Kontrollierbarkeit zu Ärger führen kann.
4. Zwei Spielarten der Appraisal-Theorie
Laut Moors (2017) gibt es zwei „Flavors“:
4.1 Flavor 1: Emotionen als diskrete Einheiten
Ziel: Erklärung spezifischer Emotionen (z. B. Trauer, Wut).
Appraisal-Muster werden als Kernthema („core relational theme“) zusammengefasst, das dann eine Emotion aktiviert (z. B. „Verlust“ → Trauer).
4.2 Flavor 2: Dimensionale Perspektive
Ziel: Erklärung einzelner Komponenten wie Handlungstendenzen oder physiologische Muster.
Keine Festlegung auf diskrete Emotionen, sondern Beschreibung von emotionalen Zuständen als kontinuierlich variierend.
5. Rolle individueller Unterschiede
Obwohl das Appraisal-Muster zentral ist, wird betont, dass individuelle Unterschiede (z. B. Persönlichkeit, kulturelle Prägung, Stressniveau) sowohl den Bewertungsprozess als auch die Reaktion beeinflussen. Dies erklärt, warum identische Situationen unterschiedliche Emotionen hervorrufen können (z. B. Wut vs. Angst).
6. Kritik und Weiterentwicklung
6.1 Kritik an Selbstberichten
Die Messung von Appraisal-Faktoren über Fragebögen ist problematisch, da Bewertungen oft automatisch und unbewusst ablaufen. Zudem beeinflussen sprachliche Kategorien, wie Menschen Emotionen benennen und wahrnehmen.
6.2 Rolle der Sprache
Laut Ellsworth (2013) strukturieren Sprache und Kultur das emotionale Erleben. Emotionen ohne klaren sprachlichen Ausdruck können Unsicherheit verstärken – ein Effekt, der bei negativen Emotionen besonders ausgeprägt ist.
6.3 Dynamik emotionaler Prozesse
Emotionen sind keine stabilen Zustände, sondern dynamische Prozesse mit Rückkopplung: Appraisals beeinflussen Emotionen, diese beeinflussen wiederum weitere Appraisals (z. B. durch neue Gedanken oder Erinnerungen).
7. Neuere Forschungsperspektiven
Automatische vs. bewusste Appraisals: Erste Studien zeigen, dass bestimmte Dimensionen (z. B. Neuheit, Zielrelevanz) automatisch verarbeitet werden können.
Neurowissenschaftliche Befunde: Regionen wie die Amygdala reagieren nicht auf spezifische Emotionen, sondern auf Appraisal-Faktoren (z. B. Zielrelevanz), was die Theorie unterstützt.
Computational Modeling: Die Interaktionen verschiedener Appraisal-Faktoren (z. B. Valenz x Kontrolle) könnten künftig modelliert werden, um komplexe emotionale Reaktionen besser zu verstehen.
8. Fazit
Die Appraisal-Theorie bietet ein differenziertes, flexibles Modell zur Erklärung emotionaler Prozesse. Sie verbindet kognitive Bewertung mit biologischen, motivationalen und expressiven Komponenten und betont die Rolle individueller Unterschiede. Trotz methodischer Herausforderungen gilt sie heute als eine der einflussreichsten Emotionstheorien.
9. Quellen
Scherer, K.R. (1999). Appraisal Theory. In Handbook of Cognition and Emotion (eds T. Dalgleish and M.J. Power). https://doi.org/10.1002/0470013494.ch30
Moors, Agnes. (2017). Appraisal Theory of Emotion. 10.1007/978-3-319-28099-8_493-1.
Ellsworth, P. C. (2013). Appraisal Theory: Old and New Questions. Emotion Review, 5(2), 125-131. https://doi.org/10.1177/1754073912463617
Kognitive Verzerrungen und organisationale Verantwortung
1. Einführung
Diese Recherche fasst drei zentrale theoretische Perspektiven zusammen, die sich mit menschlichem Entscheidungsverhalten und organisationaler Verantwortung befassen:
Gelerntes Hilflosigkeitssyndrom (Maier & Seligman, 1976),
Status-quo-Bias in Entscheidungsprozessen (Samuelson & Zeckhauser, 1988),
Unternehmen als soziale Akteure (Margolis & Walsh, 2003).
Alle drei Perspektiven beleuchten die psychologischen und strukturellen Bedingungen, unter denen Menschen bzw. Organisationen handeln oder eben nicht handeln – auch wenn Handlungsbedarf besteht.
2. Gelerntes Hilflosigkeitssyndrom
2.1 Zentrale Beobachtung
Tiere und Menschen, die wiederholt unkontrollierbaren negativen Reizen ausgesetzt sind, zeigen später passives Verhalten, selbst wenn sie sich befreien könnten. Dieses Phänomen nannten Maier und Seligman ""learned helplessness"".
2.2 Drei Auswirkungen
Motivationale Defizite: Die Bereitschaft, auf aversive Reize zu reagieren, sinkt.
Kognitive Defizite: Die Fähigkeit, Kausalitäten zwischen Handlung und Konsequenz zu erkennen, wird gestört.
Emotionale Folgen: Erhöhte Angst, Depression, Rückzug.
2.3 Bedeutung für den Alltag
Menschen mit erlernter Hilflosigkeit verallgemeinern ihre Erfahrungen und zeigen auch in kontrollierbaren Situationen keine Initiative.
Das Modell erklärt u.a. depressive Zustände und resignatives Verhalten am Arbeitsplatz.
3. Status-quo-Bias in Entscheidungsprozessen
3.1 Zentrale These
Entscheidungsträger bevorzugen überproportional häufig die Beibehaltung des Status quo, selbst wenn objektiv bessere Alternativen verfügbar sind.
3.2 Experimente & Feldstudien
Laborversuche mit alternativen Investments zeigten: Wenn eine Option als „Status quo“ markiert wurde, wurde sie häufiger gewählt.
Feldbeispiele: Wahl von Gesundheitsplänen bei Harvard, Aufteilung zwischen TIAA/CREF-Rentenfonds – starke Beibehaltung der vorherigen Entscheidung.
3.3 Erklärungsansätze
Verlustaversion (Verluste wiegen schwerer als gleich große Gewinne),
psychologische Inbesitznahme,
mentale Buchführung (mentale Kosten des Wechsels),
soziale Erwartung und Gruppendruck.
3.4 Implikationen
Relevanz für Veränderungsprozesse in Organisationen: Selbst rationale Akteure zeigen Beharrungstendenzen.
Wichtig für Policy Design, Change Management und Kommunikation.
4. Unternehmen als soziale Akteure
4.1 Ausgangspunkt
Die Welt leidet unter vielfältigem Elend (z. B. Armut, Kinderarbeit, ungleicher Zugang zu Ressourcen). Gleichzeitig besitzen Unternehmen erhebliche Ressourcen, um Veränderung zu bewirken.
4.2 Zentrale Spannung
"Misery loves companies" – Es gibt wachsende Forderungen, Unternehmen sollten gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Doch ökonomische Theorie fordert weiterhin die Maximierung des Shareholder-Value.
4.3 Drei dominante Gegenpositionen
Wohlstand durch Gewinnmaximierung: Wenn Firmenprofit maximiert wird, profitiert auch die Gesellschaft.
Nur der Staat sollte soziale Probleme lösen.
Legitim, solange transparent: Unternehmen dürfen sozial handeln, wenn sie es offenlegen.
4.4 Forschungsempfehlung der Autoren
Anstatt diese Spannung aufzulösen, sollte sie als produktiver Ausgangspunkt für neue organisationstheoretische Forschung dienen. Dies bedeutet:
Erforschung der deskriptiven Realität von Unternehmensengagement,
Reflexion über die normativen Implikationen gesellschaftlicher Verantwortung.
5. Fazit
Die drei Perspektiven zeigen gemeinsam, wie schwierig es ist, sinnvolle Entscheidungen in komplexen sozialen Kontexten zu treffen. Ob Individuum oder Organisation: Kontrollierbarkeit, Entscheidungsarchitektur und normative Orientierung sind entscheidende Einflussfaktoren. Für Führungskräfte, Change Agents und Entscheidungsträger bietet sich hier ein wertvoller Fundus an Erkenntnissen – sowohl für die Reflexion als auch für strategisches Handeln.
6. Quellen
Maier, S. F., & Seligman, M. E. (1976). Learned helplessness: Theory and evidence. Journal of Experimental Psychology: General, 105(1), 3–46. https://doi.org/10.1037/0096-3445.105.1.3
Samuelson, W., Zeckhauser, R. Status quo bias in decision making. J Risk Uncertainty 1, 7–59 (1988). https://doi.org/10.1007/BF00055564
Margolis, J. D., & Walsh, J. P. (2003). Misery Loves Companies: Rethinking Social Initiatives by Business. Administrative Science Quarterly, 48(2), 268-305. https://doi.org/10.2307/3556659
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